wahr nehmen malen
Bevor die „Ästhetik“ die Lehre von der Schönheit wurde, war sie, dem ursprünglichen Wortsinn entsprechend, die Lehre vom Wahrnehmbaren. Die Frage nach der Wahrnehmung geht dabei über die Frage nach dem puren Sehen hinaus. So thematisiert Elke Seppmann in ihren neueren Arbeiten nicht einfach das, was sie sieht, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag. Vielmehr zeigen die Werke, was die Künstlerin im Sehen wahrnimmt, wobei dies eine besondere Note dadurch erhält, dass die Sujets und Gegenstände als durchaus alltäglich zu bezeichnen sind. Das Instrumentarium der Künstlerin reicht vom Objekt, über Grafik und Fotografie bis hin zu bewegten Formen des Ausdrucks, seien es nun Daumenkinos oder PC-Animationen. Ihre Kerndisziplin ist jedoch die Malerei. Indem die Bilder das Alltägliche und Menschen im direkten Umfeld der Künstlerin nicht einfach abbilden, sondern deutend zeigen, lassen sie erahnen, was Elke Seppmann für wahr hält, wenn sie Gesehenes malt.
Die oberflächliche Schönheit alltäglicher Dinge
In Cellophan verpackte Früchte und Gemüse aus dem Supermarkt haben es Elke Seppmann angetan. Ihnen widmet sie eine ganze Serie von Bildern mit dem Titel „Durchblick“. Sieht man von den logistischen, ökologischen sowie ökotrophologischen Begleiterscheinungen dieser Produkte ab, so bleibt zunächst der verführerische Schein der Farben und Formen, der eine Malerin mit aufmerksamem Blick für alltägliche Dinge ansprechen muss. Lebensnähe und Realitätsbezug dieser Bilder könnten größer nicht sein und doch wird hier mit Mitteln der Kunst (Perspektive, Fotorealismus) auf die Künstlichkeit der vermeintlichen Naturprodukte hingewiesen. Über allem ist Cellophan, und es scheint, als seien die Lebensmittel selbst aus Plastik. Das würde ihre makellose, geradezu unnatürliche Schönheit jedenfalls erklären. Mit solchen Formulierungen sind wir unbemerkt schon mitten in der kritischen Auseinandersetzung der Künstlerin mit ihrem schönen Gegenstand, die durch die Titelgebung dezidiert evoziert ist: „isoliert“, „sicher ist sicher“, „Konkurrenz“, „Tomaten blau“, „Weihnachtszeit“, „Neue Ernte-Keniabohnen“, „bon voyage“, „alles klar“(?).
Der ästhetische Reiz des Anonymen
Bezieht sich die Serie „Durchblick“ auf die Welt alltäglicher Dinge, so legt Elke Seppmann in anderen Arbeiten ihr Augenmerk auf vermeintlich nebensächliche Begebenheiten aus der Menschenwelt. Wir sehen Ausschnitte („Schützenfest“, „Antreten“, „Vernissage“), wir sehen Menschen ohne Namen („Warten auf die Avantgarde“, „Galeristin“, „Mann-Frau-Sohn“). Sowohl das Ausschnitthafte als auch das Anonyme erlauben ungewohnte Blicke auf gewohnte Situationen und ermöglichen die Typisierung des Individuellen. Mit ihren Bildern hält die Künstlerin den Film des Lebens an, aus überraschendem Blickwinkel und an unerwarteter Stelle: Das Zufällige scheint einer Choreographie zu folgen, das beiläufig Beobachtete gewinnt Bedeutung, das Interesse am unbekannten Menschen wird zur Projektionsfläche des eigenen Ichs. Diese Arbeiten von Elke Seppmann erliegen gewinnbringend dem Reiz des Zeitlosen und, vor allem „Mann-Frau-Sohn“, dem Reiz des Ortlosen. Je weniger Kontext, je weniger Hintergrund, je weniger Räumlichkeit die Bilder bieten, desto mehr werden sie zur bildlichen Leerformel, die der Betrachter mit eigenem Leben zu füllen vermag. Der ästhetische Reiz des Anonymen besteht in der Möglichkeit, sich im Fremden zu spiegeln.
Die postmoderne Romantik der Natur
Die Romantik als Weltanschauung begreift die Natur als Stimulans, als Spiegelbild und als Phantasieraum der menschlichen (Gefühls-)Welt, jedoch auch als Reich der (kosmischen) Harmonie, der wilden Schönheit, des Idylls. Solcherart vom Menschen gesetzte und gedeutete „Natur“ entsteht in einer Zeit der allumfassenden Umwälzung. Die einsetzende Industrialisierung führt zur Urbanisierung der zuvor agrarisch geprägten Lebenswelt, die Natur wird zum Rohstoffreservoir. Wie eh und je ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur auch heute ambivalent: Die Natur bedingt, ernährt und bedroht den Menschen, so wie der Mensch die Natur sowohl zutiefst gefährdet als auch pflegt und kultiviert. Vor diesem komplexen Bedeutungshorizont sind die Landschaften von Elke Seppmann zu sehen. Der Blick der Künstlerin auf die Natur ist der Blick des heutigen Menschen. Das sprichwörtlich „ewige“ Eis der Gletscher ist gar nicht ewig. Ob wir wollen oder nicht: Wir sehen die Gletscherbilder mit dem Wissen um den Klimawandel. Eine Serie von Horizontbildern ausschließlich als stimmungsvolle Seelenlandschaften wahrzunehmen, verbietet der Titel „Windradlandschaften“. Die Wirkung der „Blauen Stunde“ ist selbst im übertragenen Sinne zwielichtig, und ob die Wolkenformationen der neueren Arbeiten natürlich oder durch die Kondensstreifen von Flugzeugen verursacht sind, muss offen bleiben („Wolkenhimmel“).
Tankstellen. Tankstellen?
In keiner Serie der Malerin Elke Seppmann wird das eingangs Gesagte zum Wechselverhältnis von Sehen, Wahrnehmen und malerischem Darstellen luzider als in ihren Tankstellen-Bildern. In lockerer Folge entstehen sie seit 2003, vier neuere Arbeiten sind in diesem Katalog reproduziert. Man erkennt auf den ersten Blick, um was es sich handelt, und doch offenbaren sich diese Arbeiten (wieder) erst auf den zweiten oder auf den dritten oder auf den vierten Blick... Die Künstlerin verfremdet das Gesehene nicht, sie abstrahiert es jedoch. Sie zieht das Gesehene von der realen Szene ab und überführt es in die Welt der von ihr wahrgenommenen Bilder. Es ist also nicht der Geruch von Benzin, Diesel oder Öl, es sind nicht die (zumeist) zugige Lage und die damit verbundene Unwirtlichkeit von Tankstellen, es ist nicht der in aller Regel an Tankstellen vorhandene Straßenlärm, was die Bilder vermitteln (wollen). Es geht um Licht und Farben, es geht um deren Wirkung, es geht um die dadurch erzeugten Stimmungen. Es ist schon erstaunlich, wie ruhig und angenehm kühl, wie farbenfroh und fast anheimelnd, wie leicht und transparent die Szenen wirken. Sie machen den realen Ort vergessen. Es sind jetzt vielmehr Orte wie der Blautopf auf der Schwäbischen Alb, der mit rätselhaftem Licht immer wieder lockt. Es sind Orte, deren stummer Abglanz aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Das sind keine Tankstellen.
Dr. Hermann Ühlein
Autor und Kurator
Einführung in den Katalog 2009-2014
Elke Seppmann ist eine Chronistin der Gegenwart, eine Forscherin, die mit wachem Blick, Pinsel und Palette statt Schmetterlingsnetz und Lupe, bekanntes und unbekanntes Terrain erkundet. Die Infragestellung der Rolle des modernen Menschen in der Gesellschaft zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Oeuvre. Geboren wurde Elke Seppmann 1949 in Münster, dem Ort, an dem sie heute noch lebt und wirkt und trotz vieler Reisen fest verwurzelt und geerdet ist. An der Freien Akademie der Bildenden Künste in Essen studierte sie Malerei, Grafik und Medienkunst.
Der Rückblick auf ihr Schaffen erkundet die Poesie einer Malerei des Paradoxen, die verschlossen und narrativ, realistisch und metaphysisch zugleich ist. Elke Seppmanns Arbeiten zeugen von großer Klarsicht und Unabhängigkeit, die kulturellen Zusammenhänge und Brüche der Gegenwart aufzuzeigen. Im vollen Bewusstsein der Diskussion um Avantgardekunst, verweigert sie sich der trügerischen Aufteilung der Kunst in eine realistische und eine abstrakte Richtung.
Elke Seppmann malt sowohl das realistische Porträt der "Braut“ als auch urbane abstrakte Landschaften, „Nachtlichter“ der Tankstellen in diffusen, aufgelösten Konturen. Ihre Malerei erfasst das
mythische Leben ebenso wie die höchst triviale Wirklichkeit von Supermarkt- Lebensmitteln in luftdichte Cellophanfolie verpackt.
Obwohl diese Serien eine Reihe an möglichen Interpretationen hervorrufen, geht es Elke Seppmann nicht vorrangig um ein politisches Statement. Es spiegelt vielmehr die komplexen Reflektionen unserer Zeit mit einem Augenzwinkern wider, in der sich vermeintliche Errungenschaften des Fortschritts und eine tiefe Verunsicherung im täglichen Leben immer wieder begegnen.
Erwartungsfrohe wie einsame Figuren stehen im Widerspruch zu den Versprechungen aus der Werbung, die das Leben stets als ausgelassen fröhlich, dynamisch, erfolgsverwöhnt und makellos inszeniert. Doch die Künstlerin leistet Widerstand: ihre Protagonisten finden sich in der Regel nicht mit der Einteilung in Schablonen ab – und werden doch mal in solche gepresst – wie beim „Frühschoppen“ der Kornbrennerei Eckmann.
Der Rückblick zeigt die Vielseitigkeit, die den Reichtum von Elke Seppmanns Ouevre ausmacht und verdeutlicht die komplexen Zusammenhänge zwischen Malerei, Objekt, Installation und
In-Situ-Kunstprojekten, die zwischen Illusion und Wirklichkeit changieren - vom imaginären Wüstenhotel Takrouna in Tunesien bis zum gedeckten und doch leeren Picknicktisch im Wald. Fata Morgana
im Münsterland?
Dr. Barbara Aust-Wegemund, Kunsthistorikerin